Leseprobe

Bernhard und der Bettler

 

 

Gerade als ich dabei bin, für Lisa-Marie den Rucksack für den morgigen Wandertag in den Wald zu packen, läutet das Handy. 

 

Meine Schwiegermutter ist dran und erkundigt sich, ob ich meiner Tochter wohl auch die neue Regenjacke eingepackt habe, die sie ihr vor drei Wochen extra zu diesem Anlass geschenkt hat. Und dass ich nur ja nicht darauf vergessen soll, ihr ein „Eisgeld“ mitzugeben. Nicht, dass sie, wie beim letzten Mal, als einziges Kind keines bekommen würde und den anderen beim genüsslichen Lutschen zuschauen musste. Das arme Kind. 

 

Oma kann es sich wieder einmal nicht verkneifen, mich wissen zu lassen, dass „doch ein Wurstsemmerl meinem Mäuschen viel besser schmeckt, als ein fades Roggenbrot mit irgend so einem Gemüseaufstrich“. Sie wird ihr also morgen in aller Frühe noch ein kleines Lunchpaket an die Türschnalle hängen. Ein paar Leckereien werde sie auch noch dazu packen. Es solle doch ein vergnüglicher Tag fürs Lieschen werden.

 

Obwohl ich innerlich grolle, versuche ich jedoch in aller Höflichkeit den netten Teil der  Schwiegertochter herauszukehren, um nicht wieder alte Diskussionen herauf zu beschwören. Meine Erklärungen über gesunde Kinderernährung in der Vergangenheit schlugen, auch wenn es manchmal nicht ganz danach aussah, im Grunde doch völlig ins Leere. 

 

Ich gebe wieder nach. Weil es schade ist um die Nerven und die Semmeln. Und um das Geld, das sie beim Fenster dafür rausschmeißt. Ich weiß, sie meint es ja nur lieb. So wie auch meine Mutter, die mir immer in den Ohren liegt mit ihren Vitamintabletten und damit, dass die Kinder doch mehr Fleisch essen müssten. Dass ich niemals auf die Idee käme, Schnitzel zu kochen, verschweige ich lieber dauerhaft. 

 

Bernhard kommt vom Rasenmähen herein. Er sieht völlig abgekämpft aus. Schmutzig und verschwitzt setzt er sich zum Esstisch. Er ist müde. Aber da ist noch etwas.

 

Den Kopf in beide Hände gestützt lümmelt er über der Tischplatte und seufzt laut auf. 

 

„Was ist los?“ Ich bemerke immer, wenn ihn etwas drückt. 

 

„Stell Dir vor, was ich gerade getan habe?“ 

 

Verdattert blickt er mich an. Ich hebe meine Augenbrauen und blicke ihn erwartungsvoll an.

 

Es kommt nichts.

 

„Was? Was hast Du denn getan?!“ Er macht es heute aber spannend.

 

Als er fortfährt, schaut er zu Boden: „Da war eben ein alter Rumäne an unserer Gartentür. Er wollte etwas haben...“

 

Ich ahne, dass mein oftmals zu gütiger Mann einem Nichtsnutz irgendeinen Geldschein in die Hand gedrückt hat, den er gerade verfügbar hatte. Und jetzt tut es ihm vermutlich leid. Zu Recht. Denn vermutlich war dies ein Schein aus unserer Spardose. Gefüllt mit unserem mühsam ersparten Notgeld. Gerade am Monatsende müssen wir ziemlich achtsam wirtschaften, damit es sich noch gut ausgeht.  Obwohl Bernhard ganztags arbeitet wird es oft knapp. Wenn da die lieben Mütter nicht manchmal ein wenig aushelfen würden, sähe es gar nicht gut aus. 

 

„Du hast doch nicht... Geld haben wir selbst doch auch nicht gerade zu viel!“

 

„Nein!“ Bernhard winkt ab. „Er wollte was zu essen. Er meinte, er hätte schon drei Tage nichts mehr gegessen... ich habe ihn einfach weg geschickt...“

 

Ich erkenne meinen Mann nicht wieder.

 

„Du hast WAS? Das ist nicht Dein Ernst?“

 

„Doch!“ Ich bemerke, dass er sich schämt. Ist das der liebenswürdige Mann, in den ich mich vor einem Jahrzehnt unsterblich verliebt habe? Ich schlucke erst einmal. Das Ganze hier beeindruckt mich soeben ziemlich negativ.

 

Es ist ganz offensichtlich, dass die Nachrichten von angst- und panikschiebenden Medien der letzten Monate auch bereits in unserem Haus ihre Wirkung zeigen. 

Seitdem tausende arme Seelen aus dem Süden vor Hunger und Krieg in unser reiches Land flüchten, fühlen sich die Menschen in unserem Staat nicht mehr sicher. 

 

Das Fremde macht uns Angst. Wir verstehen ihre Religionen und ihre Kulturen nicht. In den Zeitungen liest man nun beinahe täglich von furchtbaren terroristischen Anschlägen. Die Leute reden davon dass die Politiker versagt haben, weil sie die Tore nicht rechtzeitig geschlossen haben. Man hätte uns schützen müssen. Es wird davon gesprochen, dass sie uns alles wegnehmen werden.

 

Die Bevölkerung hat begonnen, sich in Lager zu teilen. Da gibt es die, die das nicht unterstützen wollen, den Terror und dass sich eine fremde Kultur hier breit macht. Und die anderen, die Gutmenschen, die sich der Flüchtenden annehmen, sie betreuen, für sie Kleider sammeln und für sie kochen. Die Spaltung geht sogar soweit, dass Familienmitglieder sich ächten, Freundschaften beendet werden. Auch ich selbst will ehrlich gestanden mit Babsie nichts mehr zu tun haben, seit sie mich als „Bahnhofsklatscherin“ beschimpfte. Und das nur, weil ich einmal mit dem vollbepackten Kombi ins Flüchtlingslager Traiskirchen gefahren bin, um altes Gewand von mir und den Kindern zu den armen Leuten zu bringen. 

 

Wir können in der Tat nicht wissen, wie viele von ihnen extremen Verbänden angehören, welch einer wirklich bedürftig, und welcher ein gefährlicher „Schläfer“ ist. Ja, da scheint vieles sehr unkontrolliert abzulaufen. Ich gebe zu, auch ich habe so meine Sorgen damit, weiß ich doch viel zu wenig davon, was diese vielen Fremden für ein Schicksal auf ihrem Buckel tragen. Mir ist auch klar, dass aus Opfern Täter werden können, wenn sie ihre Traumata nicht aufarbeiten. Wir wissen nicht, was sie gesehen und erfahren haben. 

 

Eines weiß ich jedoch ganz bestimmt: wenn ich ihnen feindselig begegne, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass mich mein Argwohn wie ein Bumerang selbst trifft, höher, als wenn ich es mit Anteilnahme tue. Außerdem glaube ich nicht daran, dass jemand seine Heimat von heute auf morgen verlässt, seiner Familie und Freunden den Rücken kehrt, wenn er sich halbwegs mit den Lebensumständen arrangieren kann. Wer würde so eine Tortour einer gefährlichen Fluchtaktion auf sich nehmen, wenn er nicht in realer Gefahr wäre? 

 

Für mich steht fest, dass jeder Mensch in einer hilfebedürftigen Lage auf die Hilfe eines anderen, betuchteren Menschen, angewiesen ist. Und für mich selbst ist es ganz selbstverständlich, dass der Stärkere dem Schwächeren zur Seite steht. Das macht doch den Menschen erst aus. Deswegen heißt es eben „Menschlichkeit“.

 

Diese Erkenntnis ist viel stärker, als meine Ängste.

 

„Wir wissen es nicht genau, ob der Rumäne die Wahrheit gesagt hat. Doch er wollte kein Geld. Was, wenn er nun wirklich an Hunger leidet? Haben wir denn überhaupt eine Ahnung, was das ist? Hunger?“ 

 

Rasch laufe ich hinaus, doch der Bettler ist bereits außer Sichtweite. Wieder in der Küche angekommen, präsentiere ich demonstrativ meinem Gatten unseren, bis oben hin bunt befüllten, Kühlschrank. 

 

„So lange wir selbst noch Nahrung im Überfluss besitzen, genug zu Essen, das sogar übrigbleiben würde, solange können wir teilen! Und das sollten wir auch tun!“ Mein Mann springt auf und umarmt mich. 

 

„Nun müssen wir uns aber tummeln, dass Du ihn noch rechtzeitig erwischst!“

 

Ein Plastiksackerl aus der Speisekammer ist schnell zur Hand. Bernhard hält es mir auf, als ich mich daranmache, die Leere darin mit angebrochenem Käse, einer Milchpackung, Joghurt, das von allen verschmähte Geselchte von Mama, zwei Paprika, drei Tomaten, einem Kohlrabi und vier Karotten zu füllen. 

Die Semmeln von gestern abend, die in der Brotdose vor sich hindampfeln – von Schwiegermutternnatürlich – können nun zu guter Letzt auch noch ihrer Bestimmung gerecht werden. Zwei Bananen und zwei Äpfel noch oben darauf. Fertig.

 

         „So, und jetzt schnell, schau, dass Du ihn noch findest, den armen Mann!“

 

Mit sichtbarer Erleichterung macht mein Mann kehrt, und rennt mit dem übervollen Sack zur Haustüre hinaus, schnappt sich das Fahrrad und düst eilig davon. 

 

Ein wunderbares Glücksgefühl überkommt mich gerade. Was haben wir nur für ein Glück! Wir sind, auch wenn wir oft sparsam sein müssen, immer noch in der Lage, anderen davon etwas abzugeben, ohne dass wir selbst viel entbehren müssen. Uns geht’s gut. Noch.

 

Dafür können wir nun wirklich nichts. Und die, denen es schlimmer geht, meist auch nicht. 

 

Als ich mir der Kehrseite der Medaille bewusstwerde, schäme ich mich. Was hätten wir mit all diesen Lebensmitteln getan, wäre der Mann nicht gekommen? Wer von uns verwöhnten Kindern der Nachkriegsgeneration hätte denn noch einen Käse mit minimalem Ranzrand gegessen? Wer die Semmeln vom gestrigen Abendessen? Die verschrumpelten Äpfel, die ziemlich braunen Bananen?

 

Bernhard kommt keuchend zurück geradelt. Ohne Sackerl. Er lacht mir entgegen. 

 

Wir freuen uns. Und ein wenig bin ich auch traurig.

 

 

*