LESEPROBE 1. KAPITEL

 

AUFBRUCH

 

 

Anfang Juni 2011

 

     „...aber eigentlich sollten wir darüber nachdenken!“

 

     Unter Ächzen und Seufzen räkle ich mich auf dem schmalen Bett hin und her. Mein schmachtender Blick an meinen grübelnden Mann gerichtet. Wir haben diese Liegestatt in unserem Wohnzimmer aufbauen lassen. Mitten darin. Vor dem Kamin, wo züngelnde Flammen leise knisternd den kühlen Frühlingsabend warmzaubern. Ah, tut das gut! Einfach daliegen und genießen. Ruhe. Nichts tun müssen. Die Kinder schlafen. Es ist ein langer Tag gewesen. Aber jetzt herrscht Ruhe. Und hier habe ich auch keine Kreuzschmerzen. Der Alltag mit einer Pubertierenden und noch zwei kleinen Kindern kann schon ganz schön schlauchen. Kaum ein Versteck, worin man sich verkriechen kann. Am WC vielleicht noch.

     Nun, da ich mich so entspannt auf der sündteuren Matratze einer orthopädischen Matratzenfirma ausstrecken kann, werden in meinem Kopf alte Gedanken wach, die ich schon lange nicht mehr wahrgenommen habe. Da war doch noch etwas, außerhalb der Welt mit den Kindern.....Es ist irgendwie immer zu laut im Haus.

     Tiefes Ein- und Ausatmen ist mir gerade möglich, jetzt, wo meine Küken schlafen. Wenn sie schlafen dann liegen sie wohlig behütet in ihren Nestern. Die Engel wachen über sie und die Eltern können ein wenig lockerlassen. Gott sei Dank schlafen alle in einem Stück durch.

     Wie stolz ich auf sie bin. Auf meine drei Wunderwesen! Mit jedem Durchatmen spüre ich, wie ich leichter werde. So entspannt bin ich schon sehr lange nicht mehr gewesen.

     „Was denkst du?“ stelle ich meine Frage in den Raum hinein. Es ist still. Ich hebe den Kopf, um zu sehen, was mein Mann da tut. Er sitzt beim Esstisch und schreibt etwas.

     „Warte mal einen Moment!“ kommt seine Antwort. Ich werde neugierig.

     Ganz konzentriert kritzelt er etwas auf einen Zettel. Es sieht so aus, als würde er rechnen. Er denkt darüber nach, ich weiß es. Doch eigentlich ist es eine Schnapsidee. Wir können uns keine größeren Anschaffungen leisten. Es geht einfach nicht.

            Aber schön wäre es schon....

     „Pass auf!“ Nun scheint er aus seiner Kontemplation erwacht zu sein: „Pass auf! Was wäre, wenn wir aufhören würden mit dem Rauchen? Eigentlich mögen wir es doch sowieso nicht, es passt auch nicht zu uns. Es stinkt, verpestet unsere Lungen, wir brauchen ganz schön viel Zeit, jedes Mal auf die Terrasse zu flüchten. Wir kommen zurück, sind genervter noch als sonst. Warum gehen wir nicht einfach so hinaus in die frische Luft zum Durchatmen? Lassen wir die Kippen sein und leisten uns um das Geld, das wir dabei einsparen stattdessen diese Matratze. Wir tun das doch für unsere Gesundheit! Auch die Kinder werden es uns danken. Das sollten wir so machen!“

     Mein Mann hatte da einmal eine richtig grandiose Idee! Ganz in meinem Sinne!

     Obwohl ich in meinem Leben immer wieder vergebliche Rauchentwöhnungsversuche unternommen habe, bin ich sofort überzeugt und dabei. Endlich ein richtig vernünftiger Grund, der sicher hilft, den Glimmstengel wegzulassen.

     In all meinen Schwangerschaften die Finger von jedweden Drogen zu lassen, war ja auch überhaupt kein Problem; warum gelang mir dieser Verzicht im „normalen Leben“ bisher nicht?

Es herrscht diesmal überraschenderweise absolut kein Zweifel daran, dass wir erfolgreich sein werden. Was ist nur mit mir geschehen, warum gibt es diesmal keinerlei Vorwände, Ausflüchte, Entschuldigungen? Ich bin richtig stolz auf mich.

Wir rufen den Matratzenverkäufer zu uns herein, der einstweilen zum telefonieren und rauchen auf die Terrasse gegangen ist, um uns in Ruhe überlegen zu lassen.

Er ist natürlich erfreut über unseren Entschluss. Immerhin kostet so ein Ding für ein Doppelbett € 2.800,-!!! Bei der Summe wird mir richtig schwindelig. Doch ich halte mich fest an diesem wundervoll geschmeidigen Testexemplar, damit ich nicht von der Pritsche falle. Am liebsten würde ich gar nicht mehr absteigen......

„Wie lange dauert die Lieferzeit?“ Unser Matratzenmann versichert uns die Lieferung innerhalb der nächsten zwei Wochen. „Mit der Lieferung wird sogleich auch die erste Ratenzahlung fällig. Ihr habt also zwei Wochen Schonfrist und könnt solange noch das Rauchen genießen.“

Wir beschließen jedoch, gleich morgen damit aufzuhören!

*

 

 

Eine Woche später


     Es schläft sich gut auf der neuen Unterlage. Aber vielleicht fühlen wir uns auch wegen dieser Infrarotmatte nicht mehr so müde und schlapp. Die Matratze war jedenfalls eine gute Entscheidung. Die hätte ich schon in der kräftezehrenden Schwangerschaft bei Simon, meinem dritten und letzten Kind gebraucht.

     Noch heute, nach vier Jahren, bin ich froh, kein Kind mehr kriegen zu müssen. Richtig anstrengend war es gewesen. Ich war ja auch gleich wieder schwanger geworden, nachdem ich mein zweites Kind mit zehn Monaten abgestillt hatte. Das war nicht einfach für meinen Körper, der ohnehin nicht unbedingt als gebärfreudig zu bezeichnen ist.

     Ein zu androgynes Becken oder möglicherweise eine pathologische Sache, ein Geburtsfehler, wer weiß - ich habe es nie untersuchen lassen.

     Außerdem ein Beckenboden der so fest ist, dass eine hartgesottene Hebamme bei meinem ersten Kind während der Dammdehnung in der letzten Geburtsphase ächzen musste und leise zu fluchen begann: „Nein, so einen festen Damm hatte ich noch nie!“ 

     Es war eine schwere Arbeit, die diese Frau gemeinsam mit mir zu verrichten hatte. Und auch Lucia hatte es schwer, die Hebamme, die mir bei meinen beiden Kleineren geholfen hat, damit sie zu Hause auf die Welt kommen konnten. Zum Glück hatte ich durchgehalten und mich für den natürlichen Weg entschieden. Es hätte alles ja auch ganz anders ausgehen können.

     Meine Schwangerschaften und Geburten haben mich vieles gelehrt. Mehr als sonst irgendetwas in diesen 39 Jahren meines Lebens. Seitdem vergleiche ich immer wieder schwierige Situationen mit den Phasen einer Geburt.

     Da gibt es so Sinnsprüche, die mir einfallen, wie „wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Licht daher!“ oder „Was dich nicht umbringt macht dich nur härter!“ Das klingt alles ziemlich abgedroschen, aber diese Sprüche definieren durch ihre Schlichtheit die erdige Wahrheit über Lebensprozesse im allgemeinen, wie ich finde.

     Etwas sehr Wichtiges ist mir noch klargeworden in den letzten 14 Jahren: Dass man wirklich Fundamentales nicht planen kann!

     Wir alle haben in den jungen Jahren unseres Lebens meist sehr vieles vor. Wir planen, wie wir denn leben möchten, wann wir heiraten wollen und wann wir wie viele Kinder bekommen werden. Ruckzuck, das wird super! So stellen wir uns das vor mit 15, 18, 20, 23....doch das Leben präsentiert uns häufig nicht das, was wir wollten.

     Und nun lehne ich mich das erste Mal weit aus dem Fenster: Das Leben präsentiert uns das, was wir brauchen!

     Ich hatte die Floskel schon in jungen Jahren immer wieder vernommen: „Es gibt keine Zufälle!“           

Je länger ich hier in dieser Welt lebe, umso griffiger wird dieser Satz. Umso mehr kann ich damit anfangen und mit jedem Lebensjahr bestätigt er sich.

     Da ist ein Gefühl, das ich nicht benennen kann. Ein uraltes Gefühl, so spürt es sich an, weil es so vertraut ist und ich mir dessen so sicher sein kann. Ein Gefühl, dass alles seinen Sinn hat. Dass wir nicht bloß hier sind, um es uns lustig zu machen, um Hindernissen aus dem Weg zu gehen. Jeder Baum, jeder Stein, jeder Felsen, ein jeder Berg, jeder Abgrund, jedes Wasser am Weg gehört dazu und bringt uns zum kurzen Innehalten, oftmals zum längeren Stillstand. Manchmal müssen wir verharren und uns umsehen, wo wir gelandet sind. Sind wir eigentlich noch auf unserem Weg?

     Wir können vieles umgehen. Können in unsere überfüllten Taschen greifen und jemanden bezahlen, damit er uns Brücken und Lifte baut.

     Doch jeder, der in seiner Kindheit erfahren durfte, was für ein erhebendes Erlebnis es ist, selbst Lösungen zu finden, sich selbst am Riemen zu reißen, einmal selbst dreckig zu werden, wenn man aus Lehm eine Hütte baut, einmal reinzubeißen, um beim Wandertag das Gipfelkreuz zu erreichen, und danach die wohlverdiente Ruhe und den Anblick zu genießen, weiß, da gibt es noch viel mehr.

     Das Leben bietet Fülle! Wir haben es bekommen, um es zu leben, seinen Reichtum mit all unseren Sinnen wahrzunehmen.

     Die prägendsten Erfahrungen waren nicht eingeplant, oder? Wir verlieben uns in den unpassendsten Momenten und werden ebenso zum vermeintlich falschen Zeitpunkt schwanger. So scheint es doch oft, oder?

     Ganz besonders passt dies nicht in eine Gesellschaft, wie der heute Vorherrschenden. 


     Slogans dieser Zeit:

                       „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“

                       „Nur mit Disziplin erreichen wir eine Leistung.“

                       „Reich und schön, dann kriegst du alles, was du willst“

                       „Bildung ist alles.“

                       „Sex sells.“


     Kaum jemand sagt dir: „Hör auf deine eigene Stimme!“


     Und wenn doch, dann vernehmen wir häufig das Echo dessen, was man uns zuvor wieder und immer wieder über die Medien eingeflößt hat. Wir sind alle so derart manipuliert und außer uns, dass wir gar keine innere Stimme mehr vernehmen. Weil es da draußen so laut ist!

     Hier wird tonnenweise konsumiert, alles! Sogar „Liebe machen“ ist ein Geschäft. Wissen wir eigentlich noch, wo es gesunde Nahrung gibt? Wir impfen uns zu Behinderten. Am liebsten würden wir alles versichern lassen. Unsere Kinder beschenken wir mit Plastikmüll, der eine Zeitlang sinnbefreit blinkt und kreischt. Die restliche Zeit setzen wir sie vor den Fernseher.

     Das alles soll Freude in unser Leben bringen?

     Wir heiraten und hintergehen Jahre später den liebsten Menschen, dem wir unser Leben anvertrauten. Es sollte nicht heißen, „bis dass der Tod uns scheidet“, sondern: „bis dass die Versuchung uns auseinanderreißt!“

     Wir wollen Kinder bekommen, die wir lieben können, damit wir uns selbst wieder wertvoller erscheinen, wir erwarten uns eine gewisse Erfüllung. Wenn ich so manche Frau beobachte, lässt mich der Eindruck nicht los, dass sie in der Kindheit steckengeblieben ist. Sie will eine lebende Puppe, die sie schick anziehen und im stylischen Kinderwagen vor sich herschieben kann.

     Und genau zur Stunde dann das rosa Fläschchen mit den niedlichen Elefanten drauf. Doch nicht bevor wir das Kätzchen-Lätzchen sorgfältig angelegt haben.

     Wir lesen in den wöchentlichen Zeitschriften, wie wir heute am besten unsere Kinder erziehen sollen, wann sie abgestillt werden müssen und wie lange sie Windeln haben dürfen. Das Individuum, die ganz besondere Persönlichkeit unseres kleinen Nachfahren scheint nicht wirklich von Bedeutung zu sein bei all diesen Normen, aus deren Reihe wir nicht tanzen wollen.

     Und was am allerschlimmsten ist: wir leben in einer Welt, in der wir tatsächlich meinen, dass wir als demokratische Staatsbürger die Freiheit haben, unseren eigenen Weg zu gehen. Wie ein Lemming laufen wir jedoch die Spur ab, die „alle anderen“ auch nehmen. Wir haben aufgehört, zu hinterfragen, ob dieser Weg auch der richtige für uns ist. Laufen wir so nicht ins Verderben? Es gruselt mich, wenn ich hier weiterdenke.

     Würde jeder Mensch für einen Monat mit Wasser und Brot in eine stille Zelle gesperrt werden, dann wäre dies vermutlich ein Segen für die ganze Gesellschaft. Dann würden wir sie wieder vernehmen, die Stimme des Sinns und der Lebendigkeit. Vielleicht zwischendrin auch die des Wahnsinns. Wir würden vielleicht hungern, einsam sein, die schrillen Ablenkungen vermissen, die sonst jeden Tag auf uns einströmen. Doch recht bald schon würden wir merken, was los ist. Es wäre eine Chance, geläutert hervorzugehen und sich selbst wieder näher zu kommen. Und ich bin sicher, kaum einer würde weiter den Lemmingpfad wählen.


     Das glaube ich fest.


     Doch eigentlich bin ich jetzt ziemlich vom Thema abgeschweift, denn im Grunde wollte ich mich selbst daran erinnern, wie unendlich dankbar ich sein kann, meinen Weg gefunden zu haben, trotz all des Dickichts rund um mich herum....

            ich dachte nicht immer so „selbstbestimmt“...

                       das fing nämlich so an....

 

*